Im Jahr 1956 war Service-Design noch nicht erfunden. Und trotzdem wurde sie von der Santa Fe Railway Company nach allen Regeln der Kunst praktiziert. Mit „bahnbrechendem“ Erfolg. Auch für das Marketing. Solange es Märkte gibt, verändern sie sich. Diese Veränderungen rechtzeitig zu erkennen und die Weichen entsprechend zu stellen, ist für Unternehmen überlebenswichtig.
Service-Design ist eine Methode im Marketing-Mix, mit denen sich Weichen stellen lassen. Als eigene Disziplin ist Service-Design zwar erst seit den Achtzigern auf dem Vormarsch, der Grundgedanke, auf dem es basiert, ist jedoch nicht neu: den Kunden und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Entwicklung zu stellen.
Service-Design – Schritt für Schritt
Jeder Designprozess hat analytische und gestaltende Komponenten und wird mit der Implementierung des Ergebnisses abgeschlossen. So auch das Service-Design. Auch hier folgt der Prozess einer bestimmten Abfolge von Schritten:
- Fragestellung, die den Impuls für den Designprozess gibt
- Analyse des Konkurrenzumfeldes und der Kundensicht
- Gestaltung durch Prototyping, Testphase mit Kunden-Feedback und finaler, singulärer Entwicklung des Dienstleistungs-Designs
- Implementierung in technischer Hinsicht durch die Produktion des benötigten Materials und in kommunikativer Hinsicht durch Marketing und Werbung
- Bewertung der Maßnahmen durch Kosten-Nutzen-Analyse
Doch wie sieht so etwas in der Praxis aus? Da sich Unternehmen, die heute den Wert von Service-Design erkannt haben, nicht gern in die Karten gucken lassen, zeigen wir mit einem Beispiel aus den 50er Jahren, in welchen Schritten und mit welchem Erfolg Service-Design eine Dienstleistung und damit ein Unternehmen fit für die Zukunft macht.
Santa Fe – Schiene contra Tragfläche
Das zentrale Problem für eine Eisenbahngesellschaft ist in den 50er Jahren die zunehmende Konkurrenz anderer Verkehrsmittel. Mit steigendem Wohlstand und sinkenden Preisen für Treibstoff wird das Fliegen oder Fahren mit dem eigenen Auto für viele Amerikaner zur echten Alternative. Gerade das Flugzeug erfährt auf Langstrecken einen echten Boom. Die ersten Düsenflugzeuge werden für den Passagierverkehr eingesetzt und erlauben, große Distanzen in kurzer Zeit zurückzulegen. Auf den Langstreckenlinien der Eisenbahngesellschaften macht sich dieser Umstand schmerzhaft bemerkbar. Die Passagierzahlen gehen zurück, die Rentabilität sinkt. Das bekommt die Santa Fe Railway Company deutlich zu spüren. Für die Strecke Chicago–Los Angeles benötigt eine Passagiermaschine Anfang der 50er etwa acht Stunden – nur ein Fünftel der Zeit, die der Fernzug der Santa Fe-Linie braucht. Den Kampf um die kürzeste Zeit kann der Fernzug niemals gewinnen. Wo liegen also die Chancen für die Santa Fe?
Hi-Level – mehr Komfort und mehr Service
Mit einer umfangreichen Kundenbefragung ermitteln die Manager der Santa Fe im Jahr 1954, was sich ihre Kunden auf einer vierzig Stunden dauernden Zugfahrt eigentlich wünschen. Mehr Platz, mehr Komfort und mehr Reiseerlebnis stehen bei den Passagieren im Vordergrund. Und bei Santa Fe stehen die Passagiere im Vordergrund. Also werden aus den Wünschen der Gäste konkrete Ideen für einen ganz neuen Zug entwickelt, den El Capitan Hi-Level.
Das Konzept des neuen Zugmodells basiert darauf, die Reise für jeden einzelnen Passagier so angenehmen wie möglich zu machen. Das Ziel: „the smoothest ride ever“. Da jeder Passagier Beine hat, müssen die Sitze über ausreichend Platz verfügen, damit sich große und kleine Reisende gleichermaßen strecken und bequem positionieren können. Weil Lärm einer der größten Stressfaktoren ist, befinden sich die Sitzmöglichkeiten möglichst weit weg von Schienen und Fahrwerk im zweiten Level des Wagens. Und damit bis zu vierzig Stunden Reisezeit nicht zu lang werden, bieten die Panoramawagen einen einzigartigen Ausblick in die abwechslungsreiche Landschaft entlang der Route. Da alle funktionalen Räume wie Küche, Toiletten und Gepäckbereich in der unteren Ebene des Zuges platziert werden, der Aufenthaltsbereich der Reisenden jedoch in der „zweiten Etage“, entsteht größtmöglicher Komfort, der das Reisen im El Capitan so „smooth“ macht.
Das Unternehmen lässt zwei Prototypen entwickeln, die umfassend in der Praxis getestet werden. Entgegen der allgemeinen Entwicklung des Eisenbahnwesens in den USA setzt die Santa Fe mit diesem neuen Zugmodell auf Luxus. Und das Konzept kommt an, die Kunden sind begeistert. Lediglich kleine Nachbesserungen werden auf Anregung der Reisenden vorgenommen. So wird eine kleine Ablage für Hut und Handgepäck nachgerüstet oder ein Toilettenraum im oberen Bereich des Zuges, um älteren oder eingeschränkten Gästen das Wechseln der Ebene zu ersparen. Zwei Jahre nach dem Start der Prototypen gehen 47 modifizierte „Hi-Level-Coaches“ auf die Schiene.
Wie Service rentabel wird
Parallel zu den Verbesserungen in Sachen Komfort entwickelt das Unternehmen auch ein wirtschaftliches Konzept für den neuen El Capitan. Durch die zweistöckige Konstruktion können pro Wagen 72 statt 44 Personen befördert werden. Auf eine durchschnittliche Zuglänge und Wagenkombination hochgerechnet, finden 146 zusätzliche Passagiere Platz. Bei einem Fahrpreis von 66,12 Dollar pro Person sind das 9.653,52 Dollar pro Zug und Fahrt. Bei einer Fahrt am Tag an sechs Tagen in der Woche ergeben sich mögliche Mehreinnahmen von über drei Millionen Dollar pro Jahr.
Die neue Konstruktion wirkt sich auch auf das Gesamtgewicht des El Capitan aus. Zwar ist der einzelne Wagen schwerer, doch trotz erhöhter Passagierzahl sind weniger Wagen notwendig. Einsparungen bei der Anschaffung und in Bezug auf das Gewicht, das über die knapp 3.250 Kilometer gezogen werden muss, lassen sich zwar nicht ohne Weiteres berechnen, kommen aber zu den Mehreinnahmen dazu.
Diesen Einnahmen und Einsparungen steht eine Investitionssumme von 13,5 Millionen Dollar gegenüber. Rechnet man beides gegeneinander, könnt sich die Investition im Idealfall in gut vier Jahren amortisiert haben. Bei der Implementierung des neuen Service-Angebots in die Kommunikation mit den Kunden ist der hohe Reisekomfort Dreh- und Angelpunkt. Die Anzeigen, Artikel und Werbematerialien setzen durch und durch auf den neuen „Luxury Service“. „Higher, quieter, smoother“ lautet das Versprechen des neuen El Capitan.
Das Resultat einer Erfolgsgeschichte
„So gut wie fliegen, nur ohne Lärm.“ Oder „Die beste Art zu reisen.“ Neben den begeisterten Feedbacks der Reisenden zeigt sich der Erfolg des luxuriösen Hi-Level-Konzepts auch in nackten Zahlen: 47 Prozent mehr Reservierungen bestätigen, dass Komfort und Service für Kunden eine enorm hohe Bedeutung haben. Eine Tatsache, die heute ebenso gültig ist wie vor fünfzig Jahren. Höchste Zeit also, das Konzept des Service-Designs, das bereits 1956 erfolgreich praktiziert wurde, fest im Marketing von Unternehmen zu verankern.
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